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Projekt „Rückgrat“

Schulverweigerern eine neue Perspektive bieten

Gerade sind wieder die Schulzeugnisse ausgegeben worden, und wie in jedem Jahr sahen viele, viele Schülerinnen und Schüler ihrem Zeugnis gespannt entgegen – mit Freude, mit Furcht oder mit gemischten Gefühlen. Einer Sache waren sich jedoch alle gewiss: Dass sie nämlich ihr Zeugnis in den Händen halten würden. Doch was so selbstverständlich klingt, ist nicht bei allen so. Es gibt Jugendliche, die kein Zeugnis erwarten können, die abseits stehen und die lange Zeit in keiner Statistik erfasst wurden: Die Schulverweigerer.

Besonders nach Corona werden es immer mehr, und ihr Lebensweg droht schon in der frühen Phase ihrer Jugend in einer Sackgasse zu münden. Denn ohne Schulabschluss ist es extrem schwierig bis unmöglich, eine qualifizierte Ausbildung oder Arbeit zu erhalten. Die Motive der Schulverweigerer sind so vielfältig wie die Jugendlichen selbst. Und die Schulverweigerung kann jede Familie treffen. Die Schar der Jugendlichen, die sich beim WIR e.V. in Zossen trifft, ist entsprechend bunt gemischt.

 

Alternative Bildungsmöglichkeit schaffen

Das Projekt "Rückgrat" hat sich zum Ziel gesetzt, Schulverweigerern eine alternative Bildungsmöglichkeit anzubieten. Aktuell nehmen zwölf Schüler und Schülerinnen am Projekt teil. „Das Hauptziel des Wir e.V. ist es, die Schülerinnen und Schüler im Rahmen des Projekts „Rückgrat“ zu einer Ausbildung zu befähigen“, betont Sylvia Woodhouse, Projektleiterin und Vorsitzende des Vereins WIR e.V., gemeinnütziger Bildungsverein für Junge und Junggebliebene. Viele der ehemaligen Schulabbrecher hatten zuvor bereits Hunderte von Fehlstunden angesammelt. Eine Schülerin ist ganze zwei Jahre lang nicht zur Schule gegangen; dank dem Projekt und seinen engagierten Mitarbeitenden hat sie den Abschluss dann doch geschafft. Laut Alena Vogler, der stellvertretenden Projektleiterin und Werkspädagogin, erreichen hier 90 Prozent der Neuntklässler einen Hauptschulabschluss, und alle Schüler der zehnten Klasse schaffen die Erweiterte Berufsbildungsreife.

 

Fördermittel sind Voraussetzung für die Arbeit

Der Verein wurde im Jahr 2005 gegründet und begann an der Thematik zu arbeiten. Drei Jahre später konnte die eigentliche Projektarbeit mit einer Förderung durch den Europäischen Sozialfonds (ESF) und das Schulamt Brandenburg beginnen. Von Anfang an bestand dabei eine enge Kooperation mit der Comenius-Schule Wünsdorf. Allerdings wurde die Förderung 2015 eingestellt, als der Verein in der damaligen Ausschreibungsphase nicht mehr berücksichtigt wurde.

Zum Glück entschied der Landkreis mit dem örtlichen Jugendamt, das Projekt nicht aufzugeben, und ermöglichte eine Notfinanzierung. Eine neue Richtlinie wurde entwickelt, um das Projekt weiterhin zu unterstützen. Im Jahr 2016/2017 bewilligte das Schulamt 25 Lehrerwochenstunden, während das Jugendamt die Sach- und Personalkosten übernahm. Jedes Jahr muss sich das Projekt allerdings erneut um Fördermittel bewerben.

 

Einzugsgebiet gesamter Landkreis

Der Verein "Rückgrat" besteht aus neun Mitgliedern, darunter Handwerker, eine Lehrerin, eine Rentnerin und Sozialpädagogen. „Es handelt sich um einen kleinen Verein, der sich wie eine Familie fühlt“, sagt Alena Vogler. Sie ist 2015 in das Projekt eingestiegen und seit 2019 stellvertretende Vorsitzende des Vereins.

Die Jugendlichen kommen meist mit ihren Eltern, Betreuern oder Freunden zum Erstgespräch ins Projekt, auf Empfehlung von Lehrkräften, dem Jugendamt, Psychologen oder der Jugendberufsagentur. Manchmal kommen sie auch von sich aus. Das Einzugsgebiet des Projekts erstreckt sich im Grunde auf den gesamten Landkreis, hauptsächlich jedoch bis Luckenwalde und entlang der Bahnlinie Mahlow bis Baruth.

Anfangs beim E-Werk Zossen angesiedelt, zog das Projekt 2017 in die Berliner Straße, da die Räumlichkeiten im E-Werk nicht mehr ausreichten. Der Vermieter Ralf Markwardt unterstützte den Verein und baute die neuen Räume nach den Bedürfnissen des Projektes aus. „Die neuen Räumlichkeiten sind von außen nicht einsehbar, da sie durch einen Parkplatz geschützt sind und nicht direkt an der Straße liegen“, fasst Sylvia Woodhouse zusammen.

 

Wie kommt man in das Projekt?

Die Jugendlichen, die im Projekt zur Schule gehen, bringen die ganze Bandbreite an Motivation mit, von hochmotiviert bis skeptisch. Zunächst gibt es ein Vorstellungsgespräch, dann haben die Jugendlichen zwei Wochen Zeit, um darüber nachzudenken, ob sie die Chance wahrnehmen möchten. „Für uns ist es wichtig, dass die Jugendlichen sich freiwillig zu diesem Schritt entschließen“, sagt Alena Vogler, „schließlich ist es für viele ein gravierender Einschnitt in ihrem bisherigen Leben und für alle die Entscheidung, etwas ändern zu wollen.“ „Doch auch das Pädagogen-Team trifft eine Entscheidung“, ergänzt Sylvia Woodhouse, „denn manchmal stimmt die Chemie einfach nicht oder unser Projekt ist nicht das richtige Angebot für die jeweilige Person.“ Beide erzählen, dass sich besonders seit Corona die psychischen Erkrankungen bei Jugendlichen häufen. „Hier muss man genau schauen, ob im Vorfeld ein Klinikaufenthalt notwendig ist oder eine anderweitige therapeutische Unterstützung“, sagt Sylvia Woodhouse.

Im Projekt herrschen klare Strukturen und feste Regeln. So sind beispielsweise Gewalttätigkeit und Drogenkonsum sofortige Ausschlusskriterien.

Die ersten drei Wochen im Schuljahr dienen als reine Orientierungswochen. Während dieser Zeit steht das gegenseitige Kennenlernen im Vordergrund: Es finden erlebnispädagogische Angebote statt, es werden Teamstrukturen aufgebaut und Regeln für den gemeinsamen Umgang miteinander erarbeitet. „Hier hat unser Sozialpädagoge Kenneth Habermann immer tolle Ideen, die die Orientierungswochen vielseitig und bunt und für uns als Team pädagogisch wertvoll machen“, erzählt Alena Vogler. Er ist unter anderem verantwortlich für die Kooperation mit der Bücher- und Bunkerstadt Wünsdorf, bei der die Jugendlichen beispielsweise Bereinigungsarbeiten auf einem Hubschrauberlandeplatz und auf Gehwegen durchführen.

Die Lehrerinnen und Lehrer, die hier unterrichten, kommen aus der Comenius-Schule Wünsdorf. Die Schülerinnen und Schüler selbst sind in drei Gruppen aufgeteilt: Zwei 9. Klassen und eine 10. Klasse. Nur diejenigen Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die bereits die 9. Klasse erfolgreich im Projekt absolviert haben, haben eine Chance, in die 10. Klasse aufgenommen zu werden.

 

Zwölf Plätze vorhanden

Das Schulverweigererprojekt "Rückgrat" bietet zwölf Plätze für Jugendliche im Alter von 13 bis 18 Jahren aus dem gesamten Landkreis Teltow-Fläming an. In kleinen Gruppen von maximal sechs Schülerinnen und Schülern wird hier gelernt. Zusätzlich zur schulischen Bildung steht die sozialpädagogische Arbeit mit den Jugendlichen und gegebenenfalls auch deren Familien im Fokus. „Es kommt manchmal vor, dass sich Mobbing-Opfer und ihre Täter im Projekt hier vor Ort wieder begegnen. In solchen Situationen versuchen wir, die Kommunikation zu fördern und den Jugendlichen andere Lösungen aufzuzeigen“, erzählt Alena Vogler.

Gewalt taucht im Projekt fast nie auf, da die Jugendlichen sich dort sicher fühlen können und spüren, dass sie mit ihren Erfahrungen, Zweifeln und Sorgen wahrgenommen werden. Droht jemand auffällig zu werden, stellen die Jugendlichen ihn selbst zur Rede, und es wird darauf geachtet, dass alle sich gegenseitig respektieren. „Das Schulsystem kann leider nicht auf jeden einzelnen Schüler eingehen, weshalb das Projekt eine wichtige Alternative darstellt“, sagt Sylvia Woodhouse. Und sie ergänzt, „die Probleme, mit denen die Jugendlichen konfrontiert sind, treten in allen gesellschaftlichen Schichten auf.“

 

Praktische Beratung und Arbeit

Einmal pro Woche absolvieren die Jugendlichen ein Praktikum in Betrieben, das von Alena Vogler betreut wird. Sie ist auch Ansprechpartnerin bei Problemen und hilft bei der Berufsvorbereitung, einschließlich der Unterstützung beim Erstellen von Bewerbungsunterlagen. Das selbstorganisierte Lernen (SOL) ist ein wichtiger Bestandteil des Projekts. Die Jugendlichen werden auch in politischer Bildung unterrichtet; Ziel hierbei ist, dass sie lernen, ihre Meinungen zu vertreten und zu begründen.

 Möglich ist der Abschluss der Einfachen Berufsbildungsreife in der Klassenstufe 9 und der Erweiterten Berufsbildungsreife in der Klassenstufe 10. Die Prüfungen für die Zehntklässler finden an der Comenius-Schule in den Fächern Deutsch, Mathematik und Englisch statt.

Gemeinsame Frühstücke an Freitagen und eine lange Tafel fördern die Kommunikation und den Austausch. Im Rahmen einer Newsrunde erarbeiten die Jugendlichen Vorträge über unterschiedliche Zeitungsartikel und stellen diese den anderen Projetteilnehmenden vor. So soll das freie Sprechen vor Publikum trainiert werden, was etwa in einem Bewerbungsgespräch von großem Nutzen ist. Es gibt auch Verhaltenstraining in Zusammenarbeit mit dem Angstlos e.V., das von einem Polizisten aus dem Präventivbereich gestaltet wird.

Das Schulverweigererprojekt "Rückgrat" des WIR e. V. bietet Jugendlichen eine in dieser Form einzigartige Chance, ihre schulischen und persönlichen Probleme zu überwinden, eine feste berufliche Perspektive zu entwickeln und sich in einer unterstützenden Umgebung

 

Info:
WIR e.V.
Berliner Str. 20 (Eingang auf der Rückseite des Hauses), Zossen
Tel.: 03377/3489830
E-Mail: wir.e.v.zossen@freenet.de
www.wir-ev-zossen.de

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